Die Gezeitentrommel

Das Vermächtnis des Hans Lorenz Petersen

Tragischer Tod im Watt — ein Nordseedrama

Was liegt näher, als die städtische Kurverwaltung als Partner im Boot zu vermuten. Ist sie doch aufklärerisch und von Amts wegen für die Sicherheit der Gäste im Kurgebiet verantwortlich und wird als solche auch von den Menschen wahrgenommen und respektiert. Ihre Empfehlung hätte das Angebot an den Gast quasi verbindlich gemacht. Eine etwaige Investition wäre schnell eingespielt. Die Küstenwacht würde von kostspieligen Rettungseinsätzen wegen unvernünftiger (weil unwissender) Zugereister entlastet, „Urlaub in Cuxhaven“ und der „Tod im Watt“ zum Leidwesen der städtischen Einnahmen nicht in einem Munde geführt. Die schmucke Gezeitentrommel wirbt außerdem für das renommierte, 150-jährige Nordseeheilbad. Attraktionen, wie die Kugelbake, die Insel Neuwerk, die Wattwagenfahrt, u.a. sind erzählend abgebildet und machen in angenehmen Farben klar, dass man dort einfach gewesen sein muss. Dass es trotz dieser beachtlichen und vorteilhaften Schnittmenge nicht zur Zusammenarbeit kam, ist fatal. Tatsächlich war die Kurverwaltung von Hans Petersen als erste angesprochen worden, als es um diese Investition in unbestreitbar eigener Sache ging. Diese lehnte jedoch ab. Ein jährlich zum Auftakt der Saison als Druckerzeugnis erscheinender „Wattenführer“ sollte der Informationspflicht genügen und Werbeeinnahmen durch Inserate sichern. Vier städtische Bademeister sind zur Sicherheit der wattwandernden und badenden Strandgäste aufgestellt. Eine Optimierung der beständig lauernden Gefahrensituation war aus Kostengründen schlicht nicht vorgesehen. Da Wahrheit und Wirklichkeit selten Hand in Hand gehen, war es auch hier der Fall. Weiterhin liefen oder schwammen Menschen mangels Kenntnis der genauen Gefahrenlagen um ihr Leben. Und es kam noch schlimmer …

Juni 1959

Erwin W., amtierender (Ober-) Bademeister und Platzhirsch beansprucht den Geist der Natur für sich. Er ist Verfechter (und Verfasser) des aus seiner Sicht alleinig nutzbringenden, oben bereits erwähnten Tidenkalenders. Den Geist der Natur auf ein Papier gebannt? Dass dies keinesfalls möglich ist, musste auch ihm bekannt sein. Wasserstände sind multifaktoriell bedingt und daher keineswegs vorhersehbar. Wer dennoch die Parole ausgibt, handelt fahrlässig. Trotz Hans Petersens mehrfacher fachkundlicher Hinweise auf die unvollständige Darstellung der Gefahren (auch in der Cuxhavener Presse) geht Bademeister W. (in seinem Selbstverständnis gestört) mit der Kurverwaltung im Rücken offensiv in die Gegendarstellung. Die Presse druckt, das Schlusswort wird dem Bademeister gewährt, die Stimme des Mahners (mit ihm sein konstruktives Produkt) wird ausgeblendet. Eine Front zieht auf vor dem Licht der Wahrheit, wie der tödliche Nebel im Watt. Warum nur? Hätte eine öffentliche, amtliche Befürwortung und Empfehlung der Gezeitentrommel dieses Kleinod nicht geadelt? Den Ausschlag für die Verbreitung dieses lebensschützenden Instrumentes gegeben? Zugleich das Bewusstsein für die Gefahren im Watt durch die Blume geschärft? So aber wurde es eher als Souvenir und Schmuckstück wahrgenommen. Zudem waren nur wenige Menschen, mangels passender Motivation, bereit, sich in die Funktionsweise hineinzudenken. „Leichtsinnigen und Eintagsfliegen sei eben nicht zu helfen“, so Erwin W. Das Thema Bedrohung oder gar Tod kommt im Urlaub nicht gut an — das fand eben auch die Kurverwaltung. Der Vertrieb wurde also nicht unterstützt, sondern geduldet, der Absatz war bescheiden, stagnierte schließlich. Nach nur einer Saison stellte die Firma Lubeca die Zusammenarbeit ein. Der im Werk verbliebene Gezeitentrommel-Bestand wurde an Mitarbeiter oder Geschäftspartner und Kunden verschenkt — die Todesfälle im Watt vor Cuxhaven häuften sich. Nicht nur Hans Petersen, auch Bademeister W. hätte sich im Jahre 1960 gewünscht, dass alles anders gekommen wäre. Unter seiner Ägide ertrank ein Kind unter den Augen seiner Lehrer, welche die Gefahr mangels vollumfänglicher Information nicht ausreichend bewertet hatten. Trauriger Höhepunkt eines fortwährenden Nordseedramas. Dieser tragische Tod im Watt verbunden mit Trauer und Anklage, Rechtsstreit und Frust ist auch Monate später noch in den Schlagzeilen der Presse. Das Meer hatte Tribut gefordert und genommen, wie auch in den darauffolgenden Jahren.

Die Tidenkurve: Die Tiden bringen oft Gefahren, der Mensch kann sich davor bewahren. Doch muss er die Gezeiten kennen, er darf sich nicht im Watt verrennen. Die Tidenkurve einstudieren, das sollte jeder mal probieren. Dies zu begreifen ist nicht schwer, es ist auch eine gute Lehr. Zu jeder Zeit der Wasserstand, der wird euch hierbei leicht bekannt. Für alle, die im Wattmeer laufen, ist diese Kenntnis zu gebrauchen. Es scheint wohl manches sonderlich, und doch ist dies erforderlich. Die Menschen, die im Watt ertranken, die kamen nicht auf den Gedanken …

Es blieb in dieser Angelegenheit beim heiligen Zorn des Hans Petersen, bei der guten Absicht, die einfach nicht hatte anklingen wollen, bei Enttäuschung und vergossenem Herzblut und der schmerzlichen Beobachtung des, trotz hohen persönlichen Einsatzes, Unvermeidlichen: Dem nassen Tod im Watt. Geradezu verschworen hatten sich Verantwortliche und Helfershelfer. Fortan wurde akribisch dokumentiert und kommentiert, vieles mit Feder und Tinte. Mappen mit Zeitungsausschnitten, Gedanken und Gedichte zum Thema entstanden. Schließlich fanden Wörter und Papiere im Aktenkoffer ihre Ruhe, die Gezeitentrommel ging auf eine lange, unbestimmte Reise und Hans Lorenz Petersen blickte im Jahre 1974 in die Abendsonne. Jahrzehnte später sollten die Enkel sich mit seinem Vermächtnis beschäftigen. Jedes Ding hat eben seine Zeit. Aber das ist eine andere Geschichte. Weiterlesen